Agile Coaches für die Hardware-Entwicklung – woher nehmen…?

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von Gerrit Gerland

Die meisten Unternehmen in der Hardware-Entwicklung – gemeint sind all jene, die physische, mechatronische Produkte und nicht nur Software entwickeln – haben inzwischen den Weg der agilen Produktentstehung eingeschlagen. Einige wenige sind schon früh losgelaufen und arbeiten daran, die agilen Methoden für ihre spezielle Anwendung in der zweiten oder dritten Verbesserungsschleife zu optimieren. Der größere Teil dagegen startet gerade erst ein oder mehrere Pilotprojekte und erlebt intensiv, welche Herausforderung und Veränderungen die Einführung agiler Methoden mit sich bringt. Besonders, wenn es nicht nur darum geht, das eine oder andere Projekt agil zu bearbeiten, sondern sich das gesamte Unternehmen verändern will und eine agile Transformation anstrebt.

Die Herausforderung

Nach unserer Erfahrung ist dabei eines der herausforderndsten Themen die Rolle des Scrum Masters bzw. des „Agile Coach“ zu besetzen (viele unserer Kunden, die Scrum nicht in Reinform anwenden, nennen den Scrum Master gerne „Agile Coach“).

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Während der ersten Schritte in die agile Welt, übernehmen oft Externe die Rolle des agilen Coaches. Das ist ein gutes Modell, weil ein Berater als agiler Coach in einem agilen Veränderungsprojekt – also dem Projekt, das den Wandel gestaltet – dem Projektteam erste Eindrücke zu Ereignissen, Artefakten und Regeln vermittelt. Gleichzeitig kann genau dieser externe Mitarbeiter die ersten Pilotteams in den Projekten begleiten. Falls die Anzahl der Pilotanwendungen steigt, können Sie mehr externe agile Coaches hinzuziehen.

Wenn die Pilotanwendungen dann ihre ersten Sprints erfolgreich absolviert haben, die Beteiligten Sprint-Planung, Sprint Review und Retrospektive erlebt haben und das Team Erfolgserlebnisse hatte (und vor allem Spaß an agilem Arbeiten aufgekommen ist), sollte ein Interner die Rolle des agilen Coaches übernehmen.

Das Dilemma: woher nehmen?

Allerdings gibt es häufig keine fertig ausgebildeten Mitarbeiter, die den agilen Teams im Idealfall übergangslos die gewohnte Hilfe zu Methode und Regeln geben, Hindernisse in der Organisation und im Team ausräumen und die Zusammenarbeit optimieren.

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Schon zu Beginn des Wandels, während der ersten Schritte in Richtung Agilität, brauchen Sie daher ein Konzept, wie ihr Unternehmen intern agile Coaches findet, auswählt, befähigt und einarbeitet. Natürlich können Sie auch eine Zeit lang mit externen Kräften arbeiten. Diese sind allerdings in einer akuten Situation oft schwer zu finden und mit höheren Kosten verbunden. Zudem können nur interne Rolleninhaber den Wandel vollständig stabilisieren.

Definition

  • Der agile Coach ist für das Verständnis und die Durchführung agiler Methoden verantwortlich. Er tut dies, indem er dafür sorgt, dass das agile Team die Theorie, Praktiken und Regeln der agilen Methoden einhält.
  • Der agile Coach ist ein „Servant Leader“ für das agile Team: Der agile Coach hilft denjenigen, die kein Teil des agilen Teams sind, zu verstehen, welche ihrer Interaktionen mit dem Team sich hilfreich auswirken und welche nicht. Der agile Coach hilft dabei, die Zusammenarbeit so zu optimieren, dass der durch das agile Team generierte Wert maximiert wird.


    Quelle: Scrum Guide – angepasst

Handlungsoption: Die offizielle Rolle

Also: Was können Unternehmen in dieser Situation tun? Angenommen, Sie wollen ihre agilen Coaches nicht alle am freien Markt rekrutieren – niemand will schließlich mit Agilität den Headcount signifikant erhöhen – dann müssen sie die Menschen in ihrem Unternehmen dazu bringen, diese Rolle wahrzunehmen. Dazu müssen Sie die Rolle des agilen Coaches zuerst einmal in Ihr vorhandenes Rollen-Rahmenwerk integrieren. Beschreiben Sie Verantwortung, Aufgaben, Kompetenzen (Fähigkeiten und Befugnisse) und am besten auch das Selbstverständnis der Rolle und setzen Sie die Rolle offiziell in Kraft. Bezüglich der Befugnisse ist es für den agilen Coach im klassischen Verständnis nicht so weit her. Dennoch müssen Sie hier kein leeres Blatt abgeben: Sie sollten dieser Rolle auf jeden Fall einräumen, Hindernisse beseitigen zu dürfen. Die damit verbundene Befugnis, Lösungen und Veränderungen einzufordern sowie ein Eskalationsrecht sind ebenfalls hilfreich.

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Eine gute interne Stellenausschreibung kann schon zu ersten Interessenten führen. Oft beobachten wir allerdings, dass viele Menschen noch fremdeln: „Was ist denn dann mit meiner Karriere in unserer Firma?“ „Wird so eine Rolle von denen da oben überhaupt ernst genommen?“ „Coaching brauchen nur Weicheier!“ Diese und ähnliche Fragen und Aussagen hallen durch die Kaffeeküchen. Und nur wenige Idealisten melden sich. Für diese sollten Sie einen wissenden Ansprechpartner zur Verfügung stellen, z. B. aus HR oder aus der Reihe der externen agilen Coaches – jemand, der mit Begeisterung über agiles Arbeiten und die Rolle berichtet und diese Interessenten gewinnt.

Handlungsoption: Der Karrierepfad

Ein klarer Karrierepfad muss also her. Dieser muss aufzeigen, dass und wie Mitarbeiter als agile Coaches auch Team- oder gar Abteilungsleiter werden können. Ja, wirklich! Auch wenn die agile Welt eher hierarchiearm werden soll: In der Zwischenzeit ermöglichen Sie dem agilen Coach eine Rolle im aktuell geltenden Machtgefüge.

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Beispielsweise kann ein agiler Coach als festes Mitglied des obersten Führungskreises (auf Augenhöhe mit den Fachführungskräften aus Entwicklung, Einkauf, Produktion u. ä.) jegliche Zweifel über den Karrierepfad dieser Rolle zerstreuen. Alle sehen, dass diese neue Rolle eine hohe Wertschätzung bei der Leitung erfährt und damit für Mitarbeiter mit entsprechendem Potenzial eine Karrierechance bietet.

Der agile Coach hilft dem Product Owner, indem er:

  • Techniken vermittelt, um das Product Backlog effektiver zu verwalten
  • dem agilen Team die Notwendigkeit klarer, prägnanter Product-Backlog-Einträge vermittelt
  • in Verständnis für Produktplanung in einem empirischen Arbeitsumfeld schafft
  • sicherstellt, dass der Product Owner weiß, wie er das Product Backlog so anordnet, dass es den größten Wert erzeugt
  • das richtige Verständnis von Agilität und ihrer Anwendung vermittelt


    Quelle: Scrum Guide – angepasst

Handlungsoption: Coach auf Augenhöhe

Darüber hinaus trägt diese hierarchisch hoch angesiedelte Rolle die agile Methodenverantwortung in der gesamten Organisation und dient als „Heimat“ bzw. Fachvorgesetzte(r) für alle agilen Coaches. Und noch ein wichtiger Punkt: Gerne wählen Unternehmen junge und unerfahrene Mitarbeiter für diese Rolle aus. Doch wer arbeitet auf Augenhöhe mit den erfahrenen Product Ownern zum Beispiel in agilen Steuerungsteams der Gesamtprojektleitung oder dem wichtigsten strategischen Produktentstehungsprojekt? Hier, wo in der klassischen Welt die besten und erfahrensten Projektleiter, Chief Engineers und andere zusammensitzen, brauchen Sie auch einen agilen Coach mit entsprechendem Background. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Gegenüber diese Rolle wieder einmal nicht ernst nehmen.

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Anfänger können sie daher auch nicht mit entsprechendem Nutzen ausfüllen. Es ist wichtig, dass Sie agile Coaches quer über die existierenden Hierarchiestufen finden. So können die Rolleninhaber optimal mit dem Entwicklungsteam, dem Product Owner und den Stakeholdern interagieren. Dank einem ähnlichen Niveau an Erfahrung, Weitblick und persönlicher Wirkung begegnen sich alle Beteiligten auf Augenhöhe.

Der agile Coach hilft dem Development Team, indem er:

  • das Team hin zu Selbstorganisation und funktionsübergreifender Teamarbeit coacht
  • das Development Team bei der Schaffung hochwertiger Produkte unterstützt
  • Hindernisse beseitigt, die das Development Team aufhalten
  • das Development Team in Organisationen unterstützt, die agiles Arbeiten noch nicht vollständig angenommen und verstanden haben


    Quelle: Scrum Guide – angepasst

Alternative: Teilzeit oder hauptamtlich

Oft machen Unternehmen bei der Suche nach internen agilen Coaches noch die Diskussion über hauptamtliche oder Teilzeit-Coaches auf. Um interessierte Mitarbeiter nicht vollständig von ihrer Fachaufgabe abzukoppeln, erwägen einige Organisationen, diese etwa 50 Prozent ihrer Arbeitszeit als agile Coaches einzusetzen. In der verbleibenden Hälfte der Zeit gehen diese Mitarbeiter ihrer ursprünglichen Fachaufgabe nach.

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Das verringert Karriereängste bei den Interessenten und hilft den Rolleninhabern, eine gewisse fachliche Kompetenz auch nach Jahren der Arbeit als agiler Coach zu bewahren. Hier existiert im Management oft die Angst vor „Supportfunktionen“, die völlig abgekoppelt von der Realität des Tagesgeschäfts ihre Erfüllung in Methodeneinhaltung und – perfektionierung suchen – und ihren Fokus auf die Wertschöpfung verlieren.

Teilzeit-Coaches haben also gewisse Vorteile und Unternehmen können diese Variante auch einsetzen. Führt man sich vor Augen, dass die Rolle des agilen Coaches einen besonderen Anspruch an die gesamte Persönlichkeit des Rolleninhabers stellt, sind hauptamtliche Coaches wohl eher das Gebot der Stunde.

Der agile Coach hilft der Organisation, indem er:

  • die Organisation bei der Einführung von agilen Methoden anleitet und coacht
  • die Implementierung agiler Methoden innerhalb der Organisation plant
  • Kollegen und Stakeholder dabei unterstützt, agile Methoden und empirische Produktentwicklung zu verstehen und umzusetzen
  • Veränderungen zur Produktivitätssteigerung des Teams initiiert
  • mit anderen agile Coaches zusammenarbeitet, um die Implementierung agiler Methoden innerhalb der Organisation zu verbessern.


    Quelle: Scrum Guide – angepasst

Eine Rolle mit hohen Anforderungen

Die Moderation der agilen Ereignisse wie Sprint-Planung, Daily Scrum, Sprint Review und Retrospektive ist nur ein kleiner Teil der Aufgaben der agilen Coaches. Schon Hindernisse auf allen Ebenen des Unternehmens und möglicherweise auch in mehreren unterschiedlichen Fachbereichen auszuräumen, stellt eine besondere Herausforderung an das Auftreten des agilen Coaches, seine Wertschätzung für den Gesprächspartner und an seine Fähigkeit dar, eine für alle Seiten tragfähige Lösung zu finden. Da er zusätzlich noch dafür verantwortlich ist, die Teams zur Selbstorganisation und zur eigenständigen Verbesserung zu befähigen, wird die Herausforderung noch größer: Wer ein Team zur Selbstreflexion anhalten möchte, muss selbst einen ausgeprägten Prozess der Selbstreflexion und -erkenntnis durchlebt haben. Ob diese Schritte der Persönlichkeitsentwicklung hin zu einem guten agilen Coach in Teilzeit machbar sind, ist zweifelhaft

Ausblick

Wenn Sie erfolgreich Mitarbeiter als interne agile Coaches gewinnen konnten, haben Sie eine echte Hürde genommen. Nun geht es an die richtige Auswahl der passenden Interessenten, deren Ausbildung und um Training on the Job. Es verhält sich mit dieser Rolle wie mit dem Autofahren: Nach der Fahrerlaubnis (Führerschein) kommt das Fahren lernen. Und erst nachdem sie das Gelernte regelmäßig angewendet haben, kommt – zumindest bei manchen Autofahrern – die Souveränität und Gelassenheit, sicher zu fahren. Also gilt für agile Coaches: üben, üben, üben! Dies sollten Sie im Idealfall durch einen häufigen Austausch innerhalb einer engen Gruppe von Fachkollegen unterstützen. Die Gründung einer „agile community“ innerhalb des Unternehmens ist sehr hilfreich. Diese Community kann auch die Erfolgsgeschichten erzählen, die die Rolle des agilen Coaches auf Dauer attraktiv macht.

Newsletter-Vorschau: Scaled Scrum für Hardware
Im nächsten Newsletter stellen wir Ihnen agile Skalierungskonzepte für Gesamtunternehmen und Hardware-Projekte vor. Bleiben Sie gespannt!

Kompakt

  • Sind erste agile Pilotprojekte erfolgreich, so steigt der Bedarf an internen agilen Coaches sprunghaft an. Die Personalabteilungen sind darauf nicht vorbereitet und es fehlen zielführende und attraktive Konzepte, um interne Bewerbungen zu motivieren.
  • Sie müssen die Rolle des agilen Coaches dauerhaft im Unternehmen verankern. Dazu bedarf es einer attraktiven Rollenbeschreibung und definierter Weiterentwicklungsmöglichkeiten.
  • Agile Coaches tragen als Methodenexperten und Coaches entscheidend zum Erfolg agiler Projekte bei. Mit zunehmender Erfahrung der agilen Teams wandelt sich die Rolle hin zum Organisationsentwickler, der das Management bei der agilen Transformation maßgeblich unterstützt.