Ihre globale Entwicklungsorganisation: Dickicht oder Netzwerk?
SMART DEVELOPMENT NEWS 04/2016
Alle Unternehmen sind heute international aufgestellt: Zum einen müssen sie in den Märkten präsent sein, in denen sie ihre Produkte vertreiben. Zum anderen entwickeln und produzieren sie kostengünstig in Ländern wie Rumänien oder China. Die Entscheidungen für den jeweiligen Standort wurden seinerzeit selbstverständlich bewusst und nach guten Gründen getroffen. Aber mit der Zeit haben sich die Standorte – oftmals ungesteuert – weiterentwickelt. Dieses Netz aus Entwicklungsstandorten, das Stück für Stück unter Handlungsdruck entstanden ist, ist daher zumeist nicht sauber nach einem globalen Muster geknüpft. Es ist vielmehr organisch gewachsen, ungeordnet, intransparent und weist darüber hinaus häufig Lücken oder Überlappungen auf. Sie müssen also dieses naturwüchsige Geflecht internationaler Entwicklungsressourcen in eine transparente und effiziente F&E-Netzwerkstruktur überführen.
1. Hinterfragen Sie Ihre Unternehmensstrategie
Zunächst betrachten Sie die strategischen Ziele Ihres Unternehmens. Von diesen Zielen hängt auch die globale Netzwerkstruktur ab. Ihre Geschäftsverantwortlichen legen in der Unternehmens- und ggf. auch in weiteren Geschäftsfeldstrategien fest, wie sich das Unternehmen langfristig weiterentwickeln soll und welche Ziele es erreichen will. Der Funktionalbereich F&E muss dazu seinen Beitrag leisten und sein Globales F&E-Netzwerk so gestalten, dass die Umsetzung der Strategien unterstützt.
Wenn Sie z.B. das strategische Ziel haben, bei bestimmten neu aufkommenden Produkten oder Technologien Innovationsführer zu sein, brauchen Sie Zugang zu den besten Talenten sowie engen Kontakt zu innovativen Kunden. Dafür müssen Sie einen Standort wählen, der aus Sicht potenzieller Bewerber attraktiv ist und die Nähe zu Forschungseinrichtungen, Clustern und Schlüsselkunden bietet. Oder, wenn Sie als Industriezulieferer in China ihren Umsatz deutlich ausweiten wollen, werden Sie in China Beratungs- und Applikations-Center mit Entwicklungsingenieuren benötigen. Werten Sie also alle Strategiepapiere aus und führen Sie Gespräche mit den Geschäftsverantwortlichen, um alle für ihr globales F&E-Netzwerk relevanten Anforderungen zu identifizieren.
2. Leiten Sie aus Zielen ein Rollenmodell ab
Wir haben schon gesehen, dass strategische Ziele unmittelbar zu Rollen für das Globale F&E-Netzwerk führen können. Globale Produktstandards werden zentral an einem Standort entwickelt. Kundenspezifische Produktapplikationen sollten allerdings immer da erfolgen, wo die wichtigsten Kunden sind. Aus diesen abgeleiteten F&E-Zielen können Sie globale Rollen für Ihr Entwicklungsnetzwerk erschließen: Sie brauchen für Ihr globales Produkt am richtigen Standort ein produktverantwortliches Center, das natürlich auch mit der entsprechenden Infrastruktur ausgestattet sein muss. Kunden-Center in Kundennähe sind ebenfalls erforderlich. Das sind bereits zwei Rollen. Um die Kosten der Entwicklung im Griff zu behalten, sollten Sie zugelieferte Arbeitsschritte, etwa Berechnungen, Konstruktionsdetaillierung oder Softwareentwicklungen, in Best-Cost- Countries in Osteuropa oder Indien auslagern. Damit entsteht dann eine dritte Rolle, der interne Entwicklungsdienstleister.
Ist Ihr strategisches Ziel dagegen, die Kosten für bereits standardisierte Produkte zu senken, hat das ebenfalls Auswirkungen auf Ihr Entwicklungsnetzwerk und führt in letzter Instanz zu einer weiteren Rolle: Sie benötigen Produktoptimierung mit enger Anbindung an die Produktion.
Eine weitere Rolle, die Sie auf jeden Fall benötigen, ist die Führungsrolle, d. h. Sie müssen festlegen, von welchem Standort das gesamte Entwicklungsnetzwerk gesteuert werden soll.
Die Rollenmodelle für OEM und Zulieferer unterscheiden sich in der Regel. Für OEM ist fast immer eine Matrix aus global verantwortlichen Product Center und global verantwortlichen Technology Center vorteilhaft. Erlaubte regionale Anpassungen von globalen Standards werden oft von Regional Center der jeweiligen Region verantwortet. Zusätzlich gibt es eine Rolle für die Lokalisierung von Produkten in den verschiedenen Produktionsstandorten.
Zulieferer benötigen vor allem einige größere R&D Customer Center, um in der Entwicklung mit ihren Key Accounts zusammenzuarbeiten oder auch viele verteilte R&D Application Center, wenn die bedienten Branchen sehr vielfältig und die daraus resultierende Anzahl von Kunden, die auf der Basis globaler Standards spezifische Produktanpassungen benötigen, sehr groß ist.
Beide Geschäftsmodelle, OEM und Zulieferer, haben oft die gleichen zusätzlichen Rollen R&D Governance & Coordination und Engineering Service Location.
3. Machen Sie eine Bestandsaufnahme
Tragen Sie jetzt zusammen, welche Entwicklungsstandorte Sie weltweit haben. Beschreiben Sie dann die Organisationsstrukturen dieser Standorte und bestimmen Sie die Rollen, die Ihnen jeweils zukommen. Hier ein Beispiel: Die globale Entwicklungsverantwortung für ein Automotive- Produkt A liegt in Detroit. In Asien, Europa und Südamerika gibt es jeweils einen Applikationsstandort, der das Produkt A neben den Produkten B und C an die verschiedenen Märkte anpasst. Vier internationale Standorte, zwei unterschiedliche Rollen. Ein Standort kann durchaus mehrere Rollen haben. Vielleicht werden am Standort in Asien auch sämtliche Akustikanalysen durchgeführt. In diesem Fall gibt es schon vier Standorte und drei Rollen.
Wichtig ist nicht nur die jeweilige Rolle, sondern auch die dazu gehörige inhaltliche Verantwortung zu erfassen:
- Product Center, für welche Produkte?
- Technology Center, für welche Technologien oder Baugruppen?
- Regional Center, für welche Länder?
- Customer Center, für welche Kunden?
- Application Center, für welche Produkte und Regionen?
- Localization Site oder Production Support Location, für welche Werke?
- Engineering Service Location, für welche Dienstleistungen oder Arbeitspakete?
4. Führen Sie eine Ist-Analyse durch
Eine Analyse der Ausgangssituation wird sehr wahrscheinlich bereits dazu führen, dass Sie Verbesserungspotenziale aufspüren. Da im Normalfall das Netz internationaler Entwicklungsstandorte ohne einen zugrunde liegenden globalen Masterplan entstanden ist, haben Standorte typischerweise keine standardisierten, sondern gewachsene, individuelle Rollen. Es ist daher oft nicht eindeutig festgelegt, welche Entwicklungsstandorte welche Verantwortlichkeiten haben. Interviews und Workshops und natürlich Besuche der Standorte sind ein probates Mittel, um herauszufinden, wo es bei der Zusammenarbeit internationaler Entwicklungsstandorte hakt und Sie Schnittstellen harmonisieren müssen. Sie werden so in der Regel auf Kompetenzüberschneidungen stoßen – Dopplungen, die sowohl ineffizient sind als auch häufig Kompetenzstreitigkeiten zwischen Standorten nach sich ziehen. Ihr Netz wird wahrscheinlich auch an der einen oder anderen Stelle Lücken aufweisen.
Darüber hinaus kann Ihnen die Analyse helfen, suboptimale Ressourcenverteilungen aufzuspüren: An einem Standort haben Sie zu viele Mitarbeiter einer bestimmten Kompetenz, an einem anderen zu wenige. Darüber hinaus sind Organisationsstrukturen häufig nicht überall gleich. Haben z. B. die Standorte mit eigentlich ähnlichen Rollen grundsätzlich unterschiedliche Organigramme, erschwert das die Zusammenarbeit.
Viele deutsche Unternehmen, die bereits international aufgestellt sind, neigen wie selbstverständlich dazu, besonders wichtige und interessante Entwicklungsaufgaben in Deutschland zu belassen. Beschäftigte ausländischer Standorte fühlen sich dann tendenziell als Mitarbeiter „zweiter Klasse“ und insofern nicht ausreichend wertgeschätzt. Das macht diese Standorte darüber hinaus als Arbeitgeber unattraktiver, denn es bleibt potenziellen Bewerbern nicht verborgen, dass die spannenden Aufgaben anderswo stattfinden. Es ist daher wichtig, Kompetenzen fair im Netzwerk zu verteilen, so dass sich alle Standorte auf Augenhöhe befinden. Ob Sie diesen Zustand eventuell bereits erreicht haben, springt durch eine solche Ausgangsanalyse ebenfalls ins Auge.
Sie arbeiten in diesem Analyseschritt also grundsätzliche Fehlbalancen heraus und erhalten erste Hinweise, wo Sie Kompetenzen und Kapazitäten auf- und abbauen sowie Schnittstellen harmonisieren müssen. Ferner stellen sie fest, ob Organisationsprinzipien heterogen sind.
5. Entwerfen Sie ein Zielbild und stellen Sie für jeden Standort einen Entwicklungsplan auf
Die erarbeiteten Rollen müssen natürlich nicht zwingend so strukturiert sein, wie in den gegebenen Beispielen: Sie folgen letztlich aus unternehmensspezifischen strategischen Zielen. Globale Verantwortung kann nach verschiedenen Dimensionen unterteilt werden: nach Produkt, Baugruppe, Technologie, Kunde oder Dienstleistung bzw. Spezial-Prozessschritt, wie etwa Akustiksimulation oder Windkanalberechnung und dergleichen. Entscheidend ist, dass das Rollenmodell genau auf Ihr Unternehmen und seine strategischen Anforderungen und Ziele zugeschnitten ist.
Achten Sie darauf, dass das Rollenmodell, das Sie auf diesem Wege entwickeln, vollständig ist. Es muss also wirklich jede Rolle präzise beschreiben, die zur Zielerreichung benötigt wird. Konzipieren Sie die Rollen so, dass sie keine Überschneidungen aufweisen. Zumeist ergeben sich in einem solchen zielbasierten systematischen Prozess sechs unterschiedliche Rollen für ein Entwicklungsnetzwerk.
Nun bringen Sie die Erkenntnisse der Ist-Analyse, der strategischen Ziele und des neuen globalen Rollenmodells zusammen: Weisen Sie jedem Entwicklungsstandort die richtigen, überschneidungsfrei definierten Rollen zu. Stellen Sie dann für jeden Standort einen Entwicklungsplan auf und ordnen Sie schließlich Ihr Netz internationaler Entwicklungsstandorte gemäß dieser Erkenntnisse und Pläne neu – schließen Sie Lücken, beseitigen Sie Überlappungen, passen Sie Kapazitäten an und vereinheitlichen Sie Organisationsstrukturen.
An dieser Stelle sollten Sie auch an Standorte denken, die Sie heute noch gar nicht haben. Wollen Sie in den nächsten Jahren z.B. einen neuen Markt erobern? Überlegen Sie sich schon jetzt, welche Standorte und Rollen Sie dafür brauchen, wie viele Ingenieure, welche Infrastruktur usw. Stellen Sie auch für diese zukünftigen Standorte bereits Entwicklungspläne auf.
Diesen strategischen Planungsprozess sollten Sie jedes Jahr für alle Entwicklungsstandorte erneut durchlaufen, indem Sie sich die Frage stellen, welche neuen strategischen Anforderungen es gibt und ob sie Auswirkungen auf Ihr Netzwerk haben. Wenn ja, passen Sie Ihre Planung entsprechend an.
Auf diese Art und Weise transformieren Sie Ihr gewachsenes Geflecht aus Entwicklungsstandorten sukzessive in eine systematische und leistungsstarke globale F&E-Netzwerkstruktur.
Praxisbeispiel Technologieunternehmen
Unser Kunde ist ein Automobil- und Industriezulieferer mit rund 80.000 Mitarbeitern, 13 Mrd. € Umsatz und über 150 Standorten, davon 65 F&E-Standorte. Für ein Technologieunternehmen ist ein leistungsstarkes globales F&E-Netzwerk ein entscheidender Erfolgsfaktor für die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig ist es ein wesentlicher Kostenfaktor. Als Zielsetzung für das gemeinsame Beratungsprojekt wurde folgerichtig eine strategisch gesteuerte Weiterentwicklung bei gleichzeitiger Effizienz- und Kostenoptimierung vereinbart.
In ersten Gesprächen mit Schlüsselpersonen des Kunden wurden die wesentlichen strategischen Ziele für das globale F&E-Netzwerk formuliert: Zugang zu den besten Personalressourcen und Innovationsquellen, flächendeckende Kundennähe, enger Anschluss an die Leitwerke, optimierte Kostenstruktur. Diese strategischen Ziele wurden für das Produktportfolio unterschiedlich gewichtet. So war für die geplanten Produkte der übernächsten Generation der Zugang zu den besten Talenten und Innovationsclustern besonders wichtig. Für die Differenzierung mit hoch-performanten kundenspezifischen Lösungen mit Produkten der aktuellen Generation war die Anbindung an Schlüsselkunden entscheidend. Für Standardprodukte, die einer permanenten Kostenoptimierung unterliegen, war dagegen die Anbindung an die Prozessingenieure der Leitwerke der Erfolgsfaktor. Mit diesen Informationen konnte ein Rollenmodell mit 6 verschiedenen Rollen logisch abgeleitet werden.
5 Tipps aus der Praxis
- Beachten Sie, dass ein Standort mehrere Rollen gleichzeitig haben kann.
- Definieren Sie Verantwortungen möglichst überschneidungsfrei und lückenlos.
- Beziehen Sie Vertreter der Standorte in die Analyse und Gestaltung ein.
- Balancieren Sie die Verantwortungsverteilung global aus, damit keine Zwei-Klassengesellschaft entsteht.
- Binden Sie die systematische Weiterentwicklung des F&E-Netzwerkes an den Strategie- und Budgetierungsprozess Ihres Unternehmens an.
Das so erarbeitete erste Konzept wurde in einem Leitfaden zusammengefasst und in einem als Pilot ausgewählten Geschäftsbereich auf Plausibilität überprüft. Zur Aufnahme der Detailinformationen wurden Interviews mit den F&E-Verantwortlichen geführt. Die für diesen Geschäftsbereich arbeitenden F&E-Standorte wurden in das Rollenmodell eingeordnet. Produkt-, Technologie- und Prozessverantwortungen wurden aufgenommen. In einem daran anschließenden gemeinsamen Workshop wurde das Bild der Ausgangssituation vervollständigt und das Rollenmodell überprüft. Das Ergebnis war eine vollständige Transparenz. Das Rollenmodell und die Vorgehensweise erwiesen sich als tragfähig. Also wurde auf Basis der konkreten strategischen Ziele der Geschäftseinheit und der nun transparenten Ausgangssituation ein mittel- und langfristiges Zielbild entwickelt.
Für die nachfolgenden Geschäftseinheiten wurde die Vorgehensweise leicht abgeändert:
- Erläuterung des Rollenmodells und der Vorgehensweise durch die internen und externen Berater
- Erklärung der Templates für die Aufnahme der Ist- Situation durch die internen und externen Berater
- Aufnahme der Ist-Situation im Geschäftsbereich, der Geschäftseinheit oder dem Querschnittsbereich
- Workshop mit allen Beteiligten zur Validierung der Ausgangssituation und Ableitung des mittel- und langfristigen Zielbildes
Nach Abschluss aller Workshops lagen nun die singulären Sichten der verschiedenen Geschäftsbereiche und Zentraleinheiten vor. Im nächsten Schritt erarbeiteten die internen und externen Berater eine konsolidierte Sicht, um Effizienz- und Kostenpotenziale zu heben. So wurde empfohlen sehr kleine Standorte zu schließen, Aufgaben an einem Standort zusammenzuführen, Entwicklungsdienstleistungen zu konzentrieren und früher als geplant in Best Cost Countries zu verlagern.
Der wichtigste Schritt kam aber am Schluss des Projektes. Genau, noch war es ein Projekt und ein Projekt hat ein Ende. Das Ziel musste aber eine nachhaltige Implementierung und roulierende Anwendung der entwickelten Vorgehensweise sein. Also definierten die internen und externen Berater gemeinsam einen roulierenden Planungs-, Überwachungs- und Steuerungsprozess. Vorne mit einer Anbindung an den Strategieprozess und hinten mit einer Anbindung an den Budgetierungsprozess des Unternehmens.
Heute unterstützt eine eigens dafür eingerichtete Stabsstelle die Beteiligten bei der jährlichen Anwendung dieses Prozesses und sorgt so für eine regelmäßige Überprüfung und Steuerung der Weiterentwicklung des globalen F&E-Netzwerkes.