SDN 01/2019 - Fallstricke der agilen Transformation

SMART DEVELOPMENT NEWS 01/2019

Avatar: Dr. Silvester Schmidt
von Dr. Silvester Schmidt

Unter einer agilen Transformation versteht man die Weiterentwicklung der Organisation eines Unternehmens, ausgehend von einer “klassisch-hierarchischen” in Richtung einer Agilen Organisation. Die Agile Organisation ist eine Reaktion von Unternehmen auf existenzbedrohende Risiken, die mit der digitalen Transformation einhergehen und in epochale Chancen verwandelt werden sollen. Die Risiken entstehen durch eine zunehmende Dynamik und Komplexität in vielen Branchen:

  • Ständig neue Technologien eröffnen neue Möglichkeiten, lassen aber die bestehenden Produkte schnell “alt aussehen”.
  • Neue Wettbewerber aus der “digitalen Ecke” bedrohen etablierte Geschäftsmodelle.
  • Kunden formulieren immer neue Anforderungen, auch kurz vorm Ende einer Produktentwicklung.
  • Die Vorgehensweise bei der Produktentwicklung ist zu Beginn oft unklar. Der richtige Weg findet sich erst während der Arbeit.
  • Dringend benötigte Experten lehnen im Zeitalter von New Work Hierarchien ab und fordern stattdessen Möglichkeiten der Selbstorganisation ein.

Eine agile Transformation betrifft bei größeren Unternehmen nie die gesamte Organisation. Denn agile Arbeitsweisen sind nicht in jedem Fall sinnvoll. Aber egal, wie groß der zur transformierende Bereich ist: Es hat sich als zielführend erwiesen, dabei schrittweise vorzugehen. Trotzdem lauern eine Menge Fallstricke, die es zu umgehen gilt.

Im Folgenden beschreibe ich diese Fallstricke. Die Sammlung spiegelt meine Erfahrungen aus agilen Transformationen und die aktuelle “Studienlage” wider:

1. Es werden ungeeignete Unternehmensbereiche als Piloten für “agile Inseln” oder für agile Pilotprojekte ausgewählt

Stacey Matrix

In dem Pilotbereich oder Pilotprojekt sind die zu erfüllenden Aufgaben überwiegend einfach oder kompliziert, nicht wirklich komplex. Zur Erinnerung, eine Situation ist:

  • einfach, wenn die Anforderung an den Bereich oder das Projekt völlig klar ist (“wir wollen dieses uns vertraute Kundenbedürfnis befriedigen”) und der bestmögliche Weg zur Erfüllung der Anforderung sicher beherrscht wird (“wir nutzen diese bewährte Technologie hierzu”).
  • kompliziert, wenn Anforderungen und brauchbare Lösungswege nicht sofort erkennbar sind, aber durch Analysen und tiefes Nachdenken ermittelt werden können.
  • komplex, wenn die Anforderungen an die Organisation und mögliche Lösungsansätze anfangs unbekannt sind und nur durch wiederholtes Ausprobieren Licht ins Dunkel gebracht werden kann. Erst in der Rückschau wird klar, warum der letztlich eingeschlagene Weg zum Erfolg führte.

Bei einfachen und komplizierten Herausforderungen erschließt sich für die Beteiligten der Nutzen agiler Vorgehensweisen nicht. Denn agile Frameworks sind für komplexe Aufgaben entwickelt worden, für einfache oder komplizierte Aufgaben bedient man sich besser bewährter Prozesse und Vorgehensweisen.

Die Kultur im gewählten Organisationsbereich ist weit entfernt von einer agilen Kultur. Den Mitarbeitern sind Ordnung, feste Strukturen mit einer klaren Rangordnung und eine Vielzahl allgemein verbindlicher Regeln wichtig. Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit, Verlässlichkeit und Gerechtigkeit. Agile Organisationen sind hingegen von Exploration und Veränderung, Selbstverantwortung und maximaler Kundenorientierung geprägt. Die Mitarbeiter tasten sich auf eigene Verantwortung schrittweise an die Lösung komplexer Aufgaben heran. Dabei binden sie die Kunden mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Anforderungen kontinuierlich ein und passen ihr Vorgehen laufend an.

Die Leitungsriege eines solchen Bereichs “brennt” in der Regel auch nicht für agile Ideen. Warum auch? Aber: Dann besteht auch kein ausreichendes Bekenntnis (Commitment) und die notwendige “Opferbereitschaft” des Managements, um eine agile Transformation zum Erfolg zu führen.

2. Es werden ungeeignete Menschen zur Mitarbeit in agilen Pilotprojekten oder Pilotbereichen ausgewählt

SDN 13/2019 - Agiler Mindset

Häufig werden Menschen für einen Pilotbereich oder ein Pilotprojekt ausgewählt, die gerade verfügbar sind oder sich früher schon mit dem Thema des Projektes beschäftigt haben. Das sind nicht zwangsläufig Menschen mit einem agilen Mindset. Menschen mit einem agilen Mindset möchten Neues entdecken, ausprobieren sowie Veränderungen anstoßen. Sie suchen Herausforderungen und sind bereit, Risiken einzugehen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Sie möchte persönlich immer besser werden. Und frei sein! Fehlt diese Grundhaltung, werden sie in agilen Arbeitsorganisationen weder glücklich noch leistungsfähig sein.

Gerade zu Beginn der agilen Transformation, wenn agile Konzepte noch neu und unbekannt sind, sind die fachlichen und intellektuellen Anforderungen an die betroffenen Menschen am größten. Daher sollten nur “die besten” Fach- und Führungskräfte – mit besonders geeigneten Persönlichkeitsmerkmalen – in Pilotprojekten oder -bereichen mitarbeiten.

Jede Pilotierung ist mit deutlich erhöhtem zeitlichen und nervlichen Aufwand verbunden. Dementsprechend muss sie zur aktuellen beruflichen oder privaten Situation der ausgewählten Menschen passen. Bei Menschen, die sich zum Beispiel beruflich gerade umorientieren oder familiären Nachwuchs erwarten, ist eine intrinsische Motivation zur Mitarbeit nicht unbedingt gegeben.

3. Es werden Fehler bei der Konzeption gemacht

SDN 13/2019 - Konzeptionsfehler

Das gewählte agile Framework (zum Beispiel Scrum oder Lean/Kanban) wird noch vor der Implementierung – ohne die Konzepte in ihrer ursprünglichen Form in der Praxis erlebt zu haben – angepasst und damit verfälscht. Dieses Phänomen tritt immer dann auf, wenn die “Entscheider” das Gefühl haben, dass ihr Unternehmen einzigartig ist und sich von allen anderen unterscheidet. Damit werden bewährte Erfolgsrezepte, die den Kern agiler Frameworks ausmachen, verworfen und in Folge dessen unnötige Probleme bei der Transformation verursacht.

Besonders beliebt ist es, agile Rollen neu zu definieren oder zu verwässern. So entsteht aus einem – für den wirtschaftlichen Erfolg eines neuen Produktes allein verantwortlichen – Product Owner ein Product Owner Team. Die Mitglieder dieses Teams bleiben meist in ihren angestammten Rollen (zum Beispiel als Produktmanager oder technischer Projektleiter) und “teilen die Verantwortung” untereinander auf. Gleichzeitig vertreten sie die Interessen ihrer Herkunftsbereiche. Das führt allerdings die agile Idee ad absurdum. Es bleibt beim Silo-Denken klassischer Organisationen. In diesem Zusammenhang verzichtet man übrigens meist auch gleich auf einen Scrum Master.

Häufig setzt sich dieses Verhalten mit der Verletzung weiterer agiler Prinzipien fort: Wer kann sich schon ganz auf nur ein Projekt fokussieren? Warum sollen nur sieben Leute in einem Projektteam arbeiten? Was soll das mit diesen täglichen Treffen und esoterischen Retrospektiven? Reine Zeitverschwendung!

4. Die Menschen werden nicht ausreichend vorbereitet

SDN 13/2019 - Agile Vorbereitung

Ein agiles Framework wie Scrum, mit zugrunde liegenden Werten, den darauf basierenden Prinzipien sowie einigen Praktiken, kann den Menschen leicht und mit geringem Aufwand während der Implementierung vermittelt werden.

Ihre Überlegenheit bei der Bewältigung komplexer Herausforderungen speist sich aber vor allem aus der immanenten Selbstorganisation und Hierarchiefreiheit. Diese Aspekte – und die damit verbundenen, weitreichenden Konsequenzen hinsichtlich der Organisationskultur – werden meist nicht oder nicht sorgfältig genug durch rollenspezifische Schulungen und Einzel-Coachings für Führungskräfte und Stakeholder vermittelt. Denn dazu sind anfangs nur wenige Unternehmen bereit.

Andernfalls nutzt eine “klassisch-hierarchische” Organisation ein agiles Framework wie ein simples Tool, ändert aber ihre Kultur nicht und der erhoffte Erfolg bleibt vollständig aus.

5. Es werden Fehler bei der Implementierung gemacht

SDN 13/2019 - Implementierungsfehler

Für die Implementierung ist es wichtig, dass von Anfang an eine starke Vision für die agile Transformation sowie den dabei entstehenden agilen Unternehmensbereich existiert und ins Zentrum rückt. Sie stiftet Sinn und Orientierung. Die Vision ist immer dann eine gute Referenz, wenn in kritischen Situationen die Frage nach dem “Warum?” aufkommt. An dieser Stelle nicken meist alle. Und trotzdem findet man eine durchdachte, explizit formulierte Vision mit Substanz so gut wie nie.

Bei bestimmten Arten von Unternehmen wird dann das agile Framework – oder was davon übrig ist – während der Implementierung noch zusätzlich geschwächt. Es wird einfach nicht vollständig implementiert: Die Ereignisse finden nicht oder nur unregelmäßig statt, die agilen Rollen werden nicht konsequent gelebt und die Artefakte nicht in der notwendigen Qualität erstellt.

Ein Grund dafür ist, dass einige Unternehmen auf die anfängliche Begleitung der agilen Transformation durch erfahrene Agile Coaches verzichten.

Schließlich kommen auch noch handwerkliche Fehler allgemeiner Art hinzu: Kein gutes Change Management, ein Vorgehen nach dem Wasserfall-Modell, keine ausreichende Beteiligung von direkt und indirekt Betroffenen, keine ausreichende Kommunikation usw.

Fazit

Die vorgestellten Fallstricke bei der agilen Transformation sind für uns Warnung und Ansporn zugleich. Wir haben ihre negativen Auswirkungen schon zu oft schmerzlich erfahren müssen und wissen andererseits um das enorme Potenzial agiler Frameworks, wenn sie richtig implementiert werden. Insofern kämpfen wir bei jedem Mandat wie Löwen darum, unsere Kunden vor den Fallstricken zu bewahren. Manchmal müssen wir dazu auch ein wenig mit unseren Kunden selbst ringen. Seien Sie also gewarnt …