Wie agiles Arbeiten die Entwicklung von Elektrofahrzeugen antreibt und ins Ziel führt 

Wie in den meisten europäischen Automobilunternehmen wurden auch bei der Mercedes-Benz AG die ersten Elektroautos auf Basis vorhandener Verbrenner-Modelle entwickelt. Da damit nicht das volle Potential der Elektrifizierung ausgeschöpft werden kann, plante der Konzern, Mitte der 2010er Jahre eine komplett neue, eigenständige Architektur für Elektro-Fahrzeuge zu entwickeln. Eine spannende, aber auch sehr komplexe Herausforderung. Allen Beteiligten wurde schnell klar, dass die Mischung aus konzeptionellem Neuland, Termin- und Wettbewerbsdruck, sich ändernden Zielen und technischen Voraussetzungen - zum Beispiel durch rapide Fortschritte in der Batterietechnik - mit konventionellen Arbeitsmethoden kaum abzubilden war. Die Projektleitung entschied deshalb, die Mammutaufgabe als agiles Projekt anzugehen. Kompetente Unterstützung erhielten sie dabei durch ein Beratungsunternehmen, das sich auf die agile Entwicklung komplexer mechatronischer Produkte spezialisiert hat.

Das Projekt Electric Vehicle Architecture rang selbst den topqualifizierten und erfahrenen Projektbeteiligten Respekt ab. Denn neben der Herausforderung, die Konstruktion eines Autos - schon wegen der monolithischen Batterie im Unterboden – komplett neu zu denken, galt es auch, Zielsetzungen und Bedingungen als veränderliche Größen zu verstehen und sukzessive in die Entwicklung zu integrieren. So war zum Beispiel schon beim Start des Projektes klar, dass sich die Batterietechnologie während der Entwicklungsphase in großen Schritten weiterentwickeln würde und die eigene Arbeit entsprechend immer wieder an den aktuellen Stand angepasst werden müsste. Eine extrem ambitionierte Time-to-Market-Planung, hoher Wettbewerbsdruck und die Notwendigkeit noch nicht klar definierte Kundenanforderungen, wie etwa an die Reichweite, an thermischen Komfort oder an Höchstgeschwindigkeit, komplett neu abzuleiten, taten ein Übriges, um die Komplexität des Projektes zu maximieren. Und auch die neu gewonnen Freiräume - etwa mehr Platz im Innenraum durch den nicht mehr benötigten Kardantunnel - verlangten danach, intelligent genutzt zu werden.

Die Lösung lag im Grunde nahe

Dass für dieses Projekt neue Wege beschritten werden mussten, war deshalb von Anfang an klar. Als hilfreich erwies sich, dass durch eine parallel startende Initiative zur Führungskultur agile Methoden bis hin zur Schwarmorganisation von der Konzernleitung bereits unterstützt wurden. Erklärtes Ziel war es, neue Formen der Zusammenarbeit einzuführen. Denn analog zur Entwicklung neuer technologischer Potentiale wollte man auch die Potentiale der Unternehmenskultur und Zusammenarbeit weiterentwickeln. So kam auch im Projektteam schnell die Idee auf, agile Methoden einzusetzen. Andere Entwicklungsteams, die schon erste agile Erfahrungen gemacht hatten, empfahlen zur Unterstützung das Beratungsunternehmen CO Improve, das sich auf die agile Entwicklung komplexer mechatronischer Produkte spezialisiert hat.

Kultur wird zum Erfolgsfaktor

Diese luden zunächst zu einem ‚Agile Awareness Day‘ ein, um das Thema Agilität einen kompletten Tag lang mit den Projektverantwortlichen der Mercedes-Benz AG zu diskutieren. Alle Beteiligten sollten verstehen, was ein agiles Projekt für das gesamte Unternehmen und auch das Topmanagement in der Konsequenz bedeutet. CO Improve Projektleiter Gerrit Gerland erklärt: „Besonders in großen und komplizierten Unternehmensstrukturen ist das Schaffen von Rahmenbedingungen für agiles Arbeiten eine Herausforderung. Wir hatten die Chance, auf Direktoren-Ebene die Wahrnehmung des Veränderungsbedarfs zu schärfen und konnten dadurch für dieses Projekt eine Art ‚Insel für agiles Arbeiten‘ schaffen“. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das Projektteam auf den Vorschlag, das Projekt mit der agilen Methode Scrum umzusetzen, zunächst etwas verhalten reagierte.

Veränderung braucht Mut

Von der Kundenseite klang die Idee, gerade für diese hochkomplexe Aufgabe auch noch eine komplett neue Arbeitsmethode anzuwenden, zu Beginn nicht gerade nach einer Vereinfachung. Dass sich das Team dennoch für diesen Weg entschied, lag nicht zuletzt an der Überzeugungskraft des Berater-Teams. Ausschlaggebend für den Kunden war neben anderen Faktoren die Kompetenz der CO Improve Berater, denn Sie konnten auf vielfältige Erfahrungen, auch mit anspruchsvollen technologischen Entwicklungsprojekten verweisen. Darüber hinaus stellte sich schnell heraus, dass ein Mehr an Komplexität ein Mehr an Agilität verlangt und so gab es nach dem Startschuss gleich viel zu tun.

Training on the Job

Alle Beteiligten waren sich schnell bewusst, dass auch die Aufgabe der Einführung agiler Arbeitsweisen in der Dimension einer Gesamtfahrzeugentwicklung keine alltägliche Herausforderung ist. Während oftmals Agilität mit einzelnen Pilotteams startet, war hier von Anfang an klar, dass es um die Transformation einer Organisation der Größe eines mittelständischen Unternehmens ging. Daher war es wichtig in einem ersten Schritt ein Transformationsteam aufzusetzen, das genau diesen Prozess steuern sollte und die Aufgabe hatte, die benötigten Rahmenbedingungen zu definieren und zu realisieren. Dieses Team lernte zu Beginn die iterative Methode Scrum kennen. Zentrale Elemente von Scrum sind klar definierte Rollen für alle Team-Mitglieder und die Organisation der Arbeit in so genannten „Sprints“, die immer wieder zu einem nutzbaren Ergebnis führen. Als Orientierung dient das so genannte „Product Backlog“, in dem die sämtlichen Anforderungen und Ziele definiert werden. Die Teammitglieder ziehen sich aus diesen umfassenden Anforderungen in Abstimmung mit dem so genannten „Product Owner“ für jeden Sprint die Aufgaben heraus, die sie erfahrungsgemäß in der vorgegebenen Zeit bewältigen können. Unterstützt wird das Team vom „Scrum Master“, der die Aufgabe hat, dem Team die agilen Werte und Prinzipien zu vermitteln, die agilen Ereignisse zu moderieren und Hindernisse wegzuräumen, die das Team am effizienten Arbeiten hindern.

Raum und Rahmen für einen neuen Arbeitsstil

Um der neuen Arbeitsweise einen passenden Rahmen zu geben, entwickelte das Transformationsteam auch ein neues Gestaltungskonzept für die bereits geplante Projektfläche. So wurden zum Beispiel die sonst üblichen Wände verworfen und stattdessen eine offene Fläche mit flexibel einsetzbaren Elementen erstellt. Dazu kam die so genannte „Arena“, eine Art Amphitheater mit Tribüne, in der die Teams mit den Stakeholdern in regelmäßigen Abständen zur Präsentation ihrer Arbeitsergebnisse, sogenannten “Sprint Reviews”, zusammentraten. Die Flexibilität der neuen agilen Arbeits- und Denkweise spiegelte sich so auch in der Arbeitsumgebung wider. Sie wurde zum starken Symbol der neuen Arbeitsweise. Bei der offiziellen Einweihung der neuen Projektfläche zeigte sich auch der Vorstand begeistert.

Klare Strukturen und Zuständigkeiten

Parallel zur Raumgestaltung arbeitete das Team an der Gestaltung der agilen Organisation. Zentrale Aufgabe war von Anfang an die Skalierung der agilen Projektorganisation. Am Ende wurde basierend auf den Elementen bestehender Skalierungsmodelle wie LESS, Nexus und auch SAFe ein vierstufiges Set-up von der Gesamtprojektleitung bis zu Simultaneous Engineering Teams entworfen. Auf dieser Basis wurden die ersten neuen agilen Teams gebildet. Dabei war es von vornherein wichtig, auf allen Ebenen mindestens ein Pilotteam zu haben, da die Verbindung zwischen den Ebenen ein kritischer Erfolgsfaktor war. Auf der obersten Ebene wurde das crossfunktionale Projektteam als Pilot aufgesetzt. Darunter arbeiteten die Teams agil, die sich mit der Technik und Produktion beschäftigten. In der Technik ging es dann noch tiefer. Hier wurden Gewerke wie das Interieur und darunter zum Beispiel das Cockpit Team als agile Teams aufgesetzt. Durch die Verteilung der Teams über alle vier Ebenen konnte sehr früh die Interaktion im Skalierungsrahmen verprobt und gestaltet werden.

In den Scrum-Teams übernahmen zunächst die CO Improve Berater die Rolle des Scrum Masters und unterstützten den Product Owner dabei, seine Rolle „scrum-gerecht“ auszufüllen. Nach und nach wurden diese Rollen dann von in agilen Methoden ausgebildeten Mitarbeitern selbst übernommen, sodass bereits nach einem Jahr mehr als fünfzig Entwicklerteams parallel am großen Ziel arbeiten konnten. Der Grad ihrer Agilität wurde dabei von der Komplexität ihrer Aufgaben bestimmt. So benötigte beispielsweise das Design der Sitze (bekannte Technologie, klare Anforderungen) eher wenig Agilität und konnte mit konventionellen Methoden bearbeitet werden, während komplexe Themen, etwa Thermomanagement oder Crash-Verhalten (neue Technologie, unklare Anforderungen), ein besonders hohes Maß an Agilität verlangten. Im Ergebnis wurde deshalb eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitsmethoden angewandt – von der konventionellen Entwicklung über Kanban-Teams bis hin zu umfassendem Scrum.

Ein Konzern als Trainingscamp

Die neue Agilität bedeutete aber nicht nur für die Projektteams eine anspruchsvolle Lernaufgabe. Auch auf allen anderen Hierarchieebenen musste umgedacht werden. So war es auch für das Top-Management eine Erfahrung, das gelernte Führungsverhalten an die agile Ausgestaltung anzupassen. Denn natürlich war klar, dass trotz aller Agilität und insbesondere durch die großen Herausforderungen Direktoren und Vorstand in der Verantwortung blieben. Dem Team maximale Freiräume zu eröffnen und auch in angespannten Situationen uneingeschränktes Vertrauen entgegenzubringen, kann vor diesem Hintergrund tatsächlich eine enorme Herausforderung sein. Denn in einer agilen Kultur übernimmt die Führungsebene vor allem die Rolle, Mitarbeiter zu befähigen, ihre Aufgaben zu lösen. Das bedeutet: Eigenverantwortlichkeit stärken, Hindernisse aus dem Weg räumen und möglichst optimale Rahmenbedingungen schaffen. Dieses neue Selbstverständnis zu internalisieren, war auch für die höchsten Führungsebenen eine spannende Entwicklungsaufgabe. Und auch den Mitarbeitenden verlangte es manchmal Mut ab, bestimmte Überzeugungen vor der Führungsebene zu vertreten.

Dieser Kulturwandel wäre wahrscheinlich nicht möglich gewesen, wenn das Top-Management nicht von Anfang an seine volle Unterstützung gegeben hätte. Und mehr noch: Aus den regelmäßigen Reviews des Transformationsteams, in dem die Direktoren Stakeholder waren, entwickelte sich über die Zeit ein regelmäßiger Austausch zu Themen der Führungskultur. Ein wesentlicher Schlüssel war die Expertise und Seniorität der CO Improve Berater und natürlich die große Offenheit und Veränderungsbereitschaft bis in die höchsten Führungsebenen der Mercedes-Benz AG.

Agilität individuell gestalten

Doch auch umgekehrt gab es erheblichen Anpassungsbedarf. So erwies sich beispielsweise die sonst übliche Scrum-Routine neben Feedback auch Ergebnisse und Vereinbarungen während der Reviews schnell und unkompliziert auf Flipcharts zu skizzieren, als ungeeignet, den hohen Anforderungen an Dokumentation und Revisionssicherheit in einem börsennotierten Konzern zu entsprechen. Hier mussten also umgekehrt die agilen Methoden angepasst werden, um den Erfordernissen der Organisation zu entsprechen.

Anpassungsbedarf bestand auch auf organisatorischer Ebene. So zeigte sich zum Beispiel die in vielen Unternehmen praktizierte Aufteilung von Spezialisten auf mehrere parallel laufende Projekte als Agilitätshemmnis. Wenn etwa ein Applikationsingenieur vier Projekte gleichzeitig betreut und deshalb dem Team nur mit einem Viertel seiner Arbeitszeit zur Verfügung steht, ergeben sich daraus Wartezeiten und Verzögerungen. Für das Team kann es dann schwierig werden, seine selbst gesetzten Sprint-Ziele tatsächlich zu erreichen. Das ist für alle Beteiligten enttäuschend. Und auch für den Mitarbeiter selbst kann die Aufteilung auf verschiedene Aufgaben zum Problem werden, das zusätzliche Zeit und Ressourcen für den Wechsel zwischen den Projekten blockiert. In einigen Bereichen wurden deshalb Anpassungen in der Aufgabenteilung erarbeitet, die letztendlich auch nicht direkt am Projekt beteiligten Personen Verbesserungen brachten.

Der Kunde stellte schnell fest, dass seine Spezialisten durch den Einsatz in mehreren Projekten nicht vollumfänglich die erforderlichen Rollen einnehmen konnten. Ein Störfaktor, der abgestellt werden musste, denn: Die agile Arbeit zieht einen großen Anteil ihrer Leistungsfähigkeit aus dem Zusammenhalt des Teams, der Identifikation mit den Zielen und dem Willen zum Erfolg. Die daraufhin angepasste Aufgabenteilung brachte in vielen Teams einen richtigen Performance-Sprung.

Intelligente Skalierung zur Steuerung des Gesamtprojektes

In hoch komplexen und vernetzten Einzelthemen wurden mit der Zeit weitere Strukturen geschaffen. So wurde schnell klar, wie viele Menschen und Teams am neuartigen Antrieb arbeiten. Insbesondere die Vernetzung der Themen und die technische Komplexität erforderten neue Ansätze. In diesem Feld wurde für ein Aufgabenfeld mit über 100 Personen mit dem Skalierungsansatz SAFe eine Arbeitsmethode installiert, die schnell Erfolg über inkrementelles und abgestimmtes Arbeiten brachte.

Diese spezifische Skalierung, aber auch die Größe und Komplexität des Gesamtprojekts mit streckenweise bis zu 50 parallelen agilen Teams mit insgesamt mehreren hundert Mitarbeitern, stellen sicherlich eine absolute Besonderheit in der Agilisierung eines Hardwareprojektes dar und gingen weit über die üblichen Pilotanwendungen hinaus.

Gemeinsam zum agilen Erfolg

Schon nach zwei Jahren konnte das Projekt von CO Improve vollständig an die internen Teams übergeben und inzwischen erfolgreich abgeschlossen werden. Mitte April hatte der EQS als erstes Fahrzeug aus diesem Projekt seine Markteinführung. Dies ist ein Erfolg, mit dem sich die Mitarbeiter aller beteiligten Unternehmens- und Managementebenen der Mercedes-Benz AG zu einhundert Prozent identifizieren können. So hat das Projekt maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Kultur der Zusammenarbeit im Konzern entsprechend den Zielsetzungen weiterentwickelt hat. Inzwischen hat sich im Unternehmen eine intelligente hybride Struktur etabliert, in der einfache Aufgaben konventionell und komplexe Herausforderungen agil bearbeitet werden.

Hier geht es zum original Artikel in der Industrial Production "Agiles Arbeiten treibt die Entwicklung an".