SDN 12/2018 - Wertgetriebenes Anforderungsmanagement

SMART DEVELOPMENT NEWS 12/2018

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von Daniel Alvarez Arribas

Agile Produkt-Entwicklung steht in dem Ruf, stärker als andere Methoden auf Wertschöpfung ausgerichtet zu sein. Um dies auch praktisch zu erreichen, muss allerdings das Anforderungsmanagement überhaupt erst einmal unter Wert-Gesichtspunkten strukturiert sein.

In der Praxis finden sich verschiedene Lösungsansätze, um Anforderungen voneinander abzugrenzen und inhaltlich zu beschreiben. Oft wird das Anforderungsmanagement anhand von Themen strukturiert. Diese versucht man anschließend „herunter zu brechen“ bzw. Anforderungen daraus „zu schneiden“.

Ein solches Vorgehen von oben herab bringt leider häufig mit sich, dass der Fokus auf den Wert als eigentlichen Treiber des Anforderungsmanagements leicht verlorengeht.

Wie aber sieht wertgetriebenes Anforderungsmanagement aus?

Wertgetriebenes Anforderungsmanagement strukturiert sich anhand eines zentralen Leitgedankens: Anforderungen sollten die kleinsten in sich geschlossenen Einheiten sein, die einen Wert beitragen.

Dies bedeutet, dass jede Anforderung:

  • für sich alleinstehend einen Wert hat
  • alle noch offenen Abhängigkeiten einschließt
  • so klein ist, dass man nichts mehr wegnehmen kann, ohne dass die Anforderung ihren Wert verliert

Bei wertgetriebenem Anforderungsmanagement entstehen Anforderungen also nicht von oben herab aus Themen. Vielmehr wird der Wert direkt identifiziert, indem unter Wert-Gesichtspunkten in kleinstmöglichen Einheiten gedacht wird. Anschließend können die entstehenden Anforderungen zur besseren Übersicht wieder unter Themen eingeordnet werden.

Bei diesem Vorgehen wird das methodische Erbe von Lean deutlich, insbesondere der Einfluss des ersten und dritten Lean-Prinzips:

  • Den Wert identifizieren
  • (Einzelstück-) Fluss herstellen

„Den Wert identifizieren“ begründet das Denken unter Wert-Gesichtspunkten. „(Einzelstück-) Fluss herstellen“ begründet die Unabhängigkeit der Anforderungen voneinander.

Der Ansatz, das Anforderungsmanagement ausgehend von kleinstmöglichen Wert-Einheiten aufwärts zu strukturieren, bietet verschiedene Vorteile:

  1. Werthaltige Anforderungen können unabhängig voneinander priorisiert und umgesetzt werden.
  2. Der Fortschritt im Hinblick auf die Gesamtzielerreichung ist anhand des Umsetzungsstatus werthaltiger Anforderungen sehr gut greifbar.
  3. Die Entwicklung kann bereits sinnvoll beginnen, sobald die erste werthaltige Anforderung identifiziert ist.
  4. Die Feedbackschleife ist kurz. Es können regelmäßig Prototypen gefertigt und getestet werden sowie neue Erkenntnisse über fertige Funktionalitäten gewonnen werden.
  5. Die klare Wertorientierung begünstigt einen Fokus einzelner Teams auf die Umsetzung jeweils einer einzelnen Anforderung.
  6. Das Denken in kleinstmöglichen Werteinheiten vereinfacht die parallele Umsetzung mehrerer Anforderungen durch verschiedene Teams.
  7. Der Umfang des Produkt-Backlogs und der Aufwand der Planung sind gering, weil die Anforderungen erst kurz vor Beginn ihrer Umsetzung in Aufgaben heruntergebrochen werden.
  8. Die Frage, wie man Anforderungen aus Themen „herunterbricht“ oder „schneidet“, stellt sich bei diesem Ansatz nicht.

Wert

„Wert“ in diesem Zusammenhang meint schlichtweg eine Beschreibung des Nutzens. Wert lässt sich auch quantifizieren – dies ist jedoch eine von der grundsätzlichen Aufteilung der Anforderungen losgelöste Fragestellung.

Der Nutzen wird in der Regel aus Sicht des jeweiligen Leistungsempfängers beschrieben. Oft sind dies Kunden und deren Mitarbeiter, jedoch finden sich teilweise auch andere Leistungsempfänger, wie z. B. Servicetechniker, Vertriebspartner, Kundenbetreuer oder Fertigungstechniker aus der eigenen Produktion.

Zusätzlich gibt es auch Fälle, bei denen der Nutzen am einfachsten aus Unternehmenssicht beschreibbar ist, wie z. B.:

  • Regulierungsanforderungen
  • Jede Form von Technologie-Entwicklung
  • Anforderungen zur Senkung von Herstellungs- oder Betriebskosten, rein aus der Absicht, den Gewinn zu steigern
  • Anforderungen, die nur die innere Struktur des Produktes betreffen, wie z. B. Maßnahmen zur Gewährleistung einer nachhaltigeren oder einfacheren Weiterentwicklung des Produktes
  • Anforderungen bzgl. zentraler Datensammlung aus dem Eigeninteresse des Unternehmens

User Stories

Nach welchem genauen Format Sie Ihre Anforderungen inhaltlich strukturieren, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass der Nutzen klar aus den Anforderungen hervorgeht. Weit verbreitet ist z. B. das User-Story-Format (dt.: Anwendererzählung). Das Grundmuster ist hierbei: „Als <Zielgruppe> möchte ich <Funktionalität>, um <Nutzen>.“

Ein Beispiel: „Als Maschinenarbeiter möchte ich an einem ergonomischeren Bedienpult arbeiten können, um während Schichten mit geringem Automationsgrad komfortabler zu arbeiten.“

Das Format bietet verschiedene Vorteile:

  • Es erzwingt ein Sich-Hineinversetzen in die Kundensicht.
  • Es beschreibt neben der gewünschten Funktionalität auch den Nutzen und liefert dadurch wichtige zusätzliche Informationen zur Absicht hinter der Anforderung und somit auch zum Verwendungskontext. Anhand dessen kann möglicherweise auch eine ganz andere Funktionalität entwickelt werden, die den gewünschten Nutzen noch besser erbringt.
  • Es führt grundsätzlich zu verhandelbaren Anforderungen, d. h. die Details der Lösung können im Laufe der Refinement-Aktivitäten und der Umsetzung flexibel verhandelt werden.
  • Es ist kompakt und einfach handzuhaben.
  • Durch die gleichförmigen, vollständigen Sätze ist es besonders zugänglich.

Für eine möglichst einfache Bezugnahme werden die Anforderungen oft ergänzend mit einem prägnanten Schlagwort betitelt, wie z. B. „Ergonomisches Bedienpult“.

Epen

Anforderungen, die nach den Grundsätzen wertgetriebenen Anforderungsmanagements erstellt wurden, sind häufig noch zu umfangreich, um von einem Team und innerhalb eines Sprints umgesetzt zu werden.

Ist dies der Fall, werden die Anforderungen als Epen abgebildet. Das Wort „Epos“ bedeutet im Deutschen so viel wie „umfangreiche Erzählung (in Versen)“.

Ein Epos ist eine Aufteilung einer werthaltigen Anforderung in Teilanforderungen, welche jeweils in Gänze innerhalb eines Sprints und von einem Team umgesetzt werden können. Diese Aufteilung erfolgt im Verlauf der Refinement-Aktivitäten. Erst hier werden Anforderungen also notwendigenfalls „heruntergebrochen“ bzw. „geschnitten“. Da die ursprüngliche Anforderung unter Wert-Gesichtspunkten bereits den kleinstmöglichen Umfang hat, kann der Wert bei der Aufteilung kein Kriterium mehr sein. Die Aufteilung erfolgt daher immer nach Teilaufgaben oder nach Anteilen, die auf verschiedene Teams entfallen. Bei den resultierenden Teilanforderungen spricht man von dünn geschnittener Funktionalität.

Das Epos kann jetzt – anders als die ursprüngliche Anforderung – in Form der einzelnen Teilanforderungen verteilt über mehrere Sprints und ggf. mehrere Teams umgesetzt werden. Das Epos selbst bildet dabei eine Hülle für die enthaltenen Teilanforderungen, durch die der Bezug zum Wert erhalten bleibt. Aus diesem Grund sind Epen insbesondere auch in der skalierten Entwicklung nützlich.

Abgrenzung zwischen Epen und Themen

Epen sind ein wichtiges Modellierungswerkzeug im Rahmen der Priorisierung. Ein Epos hat – genau wie die ursprüngliche Anforderung – nur als Ganzes einen Wert. Daher müssen Epen – genau wie Einzelanforderungen – immer als Ganzes priorisiert und umgesetzt werden.

Hierdurch grenzen sich Epen klar von Themen ab, d. h. fachlichen Anforderungsfeldern, deren zugehörige Anforderungen auch unabhängig voneinander priorisiert und umgesetzt werden können.

Epen werden oft mit Themen verwechselt, vor allem in Organisationen, die ihre Anforderungen auf Basis von JIRA verwalten. In JIRA sind Epen die einzigen Vorgänge, die andere Vorgänge bündeln können, ohne dass diese anderweitig verknüpft sein müssen oder Teilaufgaben sein müssen. Daher werden Epen in JIRA häufig zweckentfremdet, um beliebige Themen abzubilden. Hierbei wird leider auch oft die primäre Funktion von Epen vergessen.

Tipp: Bilden Sie, falls Sie JIRA einsetzen, Themen konsequent über Labels und Quickfilter ab. Hierdurch können Sie Epen in ihrer eigentlichen Funktion für das wertgetriebene Anforderungsmanagement nutzen.