12. November 2019

Wissen, was Kunden wollen: Warum Anforderungsmanagement so wichtig ist

SMART DEVELOPMENT NEWS 04/2019

SDN 04/2019 - Wissen, was Kunden wollen: Warum Anforderungsmanagement so wichtig ist
Avatar: Gunther Reibe
von Gunther Reibe, Leitender Berater

Martin, Entwicklungsleiter eines deutschen mittelständischen Unternehmens – einem sogenannten Hidden Champion – konnte die letzten drei Wochen nicht viel schlafen. Sein Unternehmen entwickelt und vertreibt weltweit komplexe Produkte und er steht kurz vor einem „SOP“ – Start of Production.

Sein Unternehmen ist sehr erfolgreich, die innovativen Produkte kommen seit Jahren gut am Markt an. Die Optimierung des Produktentstehungsprozesses hat konkrete Potenziale gehoben und damit die „theoretische Entwicklungszeit“ reduziert. Trotzdem ist irgendwie Sand im Getriebe. Warum nur verschiebt sich der SOP gegenüber der Planung so häufig? Die Entwicklung hat doch alles im Griff?

Auch der aktuelle SOP hätte vor 6 Monaten stattfinden sollen. An die Auswirkungen für Kunden, Vertrieb und Produktion wollte Martin bereits zum Zeitpunkt der Verschiebung gar nicht denken. Stattdessen erinnerte er sich an seinen Bekannten Holger, den er auf einem Entwicklungskongress kennengelernt hatte. Sie hatten gemeinsam einige Vorträge und Workshops zum Thema „Smart Development of Hardware Products“ besucht und sich rege über die Themen ausgetauscht.

Zwei Tage später rief Martin bei Holger an und schilderte ihm seine Situation. Schon nach einer Frage war die Sachlage für Holger glasklar: „Habt Ihr ein Anforderungsmanagement im Entwicklungsprozess implementiert?“ Martin verstand zunächst die Frage nicht. „Anforderungsmanagement? Wir wissen doch, was die Kunden wollen.“ Schließlich entwickelt sein Team seit Jahren High-Tech-Innovationen mit klarem Mehrwert für die Kunden.

Verstehen und umsetzen was der Kunde möchte – eine Herausforderung
Abbildung: Verstehen und umsetzen was der Kunde möchte – eine Herausforderung

Na gut, ein paar Probleme gibt es doch. Einige Entwicklungen sind hinter den Erwartungen geblieben und stehen auf dem Hof. Der Kunde ist nicht bereit, die höheren Kosten für die Entwicklungen zu zahlen. Das Produktmanagement sagt immer häufiger, dass die geäußerten Wünsche der Kunden nicht gehört werden oder zumindest nicht im Produkt ankommen.

Beim Verkaufsstart des letzten Entwicklungsprojektes war alles perfekt vorbereitet. Nichts war zuvor durchgesickert, die eingeladenen Großkunden wussten nicht, was sie erwarten würde. Doch nach der außerordentlichen Präsentation – das Marketing hatte sich richtig ins Zeug gelegt mit Musik, Lichtschau und dem Finale – kam die Enttäuschung. Am Tag danach folgten die Rückmeldungen direkt und über den Vertrieb. Grundtenor: „Was ist denn das? Was sollen wir damit? Sie haben wirklich nicht unsere Situation und Anforderungen verstanden!“

Das Produkt wurde nur in geringster Stückzahl verkauft, als Nischenprodukt. Aber aufgrund der hohen Entwicklungskosten und der geplanten hohen Stückzahlen entwickelte es sich zu einem finanziellen Desaster.

Was war passiert? Oder besser, was war nicht passiert?

Ideen von Kunden werden vielleicht noch in Gesprächen notiert, maximal in einem Protokoll. Doch dann verschwinden diese Ideen im Unternehmens-Nirwana. Nach langer Entwicklungszeit kommt dann ein Produkt auf den Markt. Es entspricht sicherlich hohen, technologischen Anforderungen. Doch werden die konkreten Anforderungen der Kunden erfüllt?

Holger übergab Martin daher den folgenden Artikelauszug mit Erfolgsfaktoren und Erläuterungen zum Anforderungsmanagement, der ihm die Augen öffnete und den Weg für nachhaltige Verbesserungen in der Produktentwicklung seines Unternehmens ebnete:

1. Vorbereitung des Entwicklungsprojektes, Klärung der Rahmenbedingungen

Ein verantwortlicher Projektleiter kann bereits in der Frühphase eines Projektes wichtige Weichen stellen. Dabei steht ihm ein funktionsübergreifendes Expertenteam zur Verfügung. Die Routinetermine sind fixiert. Darüber hinaus herrscht bei allen Beteiligten Klarheit über den Projekt-Rahmen (Scope).

2. Sammlung, Dokumentation und Bewertung der Stakeholder-Anforderungen

Die Sammlung kann z. B. durch Interviews, Kundenworkshops, Produktkliniken oder die Teilnahme an Messen erfolgen. Konkret werden mit den Kunden oder weiteren Stakeholdern in den Workshops sogenannte „Use Cases“ beschrieben, also konkrete Einsatzorte/Anwendungsgebiete des neuen Produktes. Eine Beschreibung von Anwendergruppen unterstützt die Anforderungsdefinition.

Anforderungen müssen konkret und messbar sein. Dadurch können wir den Interpretationsspielraum minimieren. Beliebte Hilfsmittel sind Baumstruktur (Abbildung 2: „The Requirements Pyramid“) und Syntax.

Die Anforderungspyramide
Abbildung: Die Anforderungspyramide

Eine Verlinkung der Anforderungen (Features, Use Cases, Scenarios und Test Cases) in einer Baumstruktur ermöglicht eine übersichtliche Darstellung und Bearbeitung. Die Syntax sorgt für eindeutige Beschreibungen mit geringem Interpretationsspielraum. Dazu erlaubt sie es, Beschreibungen in ähnlichen Folgeprojekten wieder zu verwenden. Die Anforderungen werden zentral in einer Datenbank (Single Source of Truth) gesammelt und so dokumentiert, dass Änderungen jederzeit nachvollziehbar sind.

Syntax für funktionale Anforderungen
Abbildung: Syntax für funktionale Anforderungen

Eine Verlinkung der Anforderungen (Features, Use Cases, Scenarios und Test Cases) in einer Baumstruktur ermöglicht eine übersichtliche Darstellung und Bearbeitung. Die Syntax sorgt für eindeutige Beschreibungen mit geringem Interpretationsspielraum. Dazu erlaubt sie es, Beschreibungen in ähnlichen Folgeprojekten wieder zu verwenden. Die Anforderungen werden zentral in einer Datenbank (Single Source of Truth) gesammelt und so dokumentiert, dass Änderungen jederzeit nachvollziehbar sind.

Die Effizienz steigert sich, wenn bei Nachfolgeprodukten die bereits vorhandene Dokumentation angepasst, genutzt und „das Rad nicht wieder neu erfunden“ wird. Erfolgsentscheidend sind einheitliche, auf das Unternehmen abgestimmte Dokumentationsstrukturen. Üblicherweise nutzen Unternehmen dafür die Produktfunktionen oder eine Produktstruktur.

Bei der Sammlung der Anforderungen wird sehr viel Wert auf Vollständigkeit gelegt. Gemeinsam können Projektteam, Sponsor und Experten dann auch gegensätzliche Anforderungen analysieren und bewerten. Jedoch obliegt die Priorisierung der umzusetzenden Anforderungen dem Projektteam/Sponsor. Das bedeutet: Auch mit einem Anforderungsmanagement müssen nicht alle von Kunden gewünschte Anforderungen in ein neues Produkt eingehen.

Am Ende dieses Schrittes steht das Lastenheft. Es kann sowohl in eine interne Entwicklungsabteilung als auch an externe Entwicklungsdienstleister überreicht werden.

3. Definition der Systemspezifikationen

Den sauber dokumentierten und priorisierten Anforderungen können nachfolgend technische Lösungsansätze/-ideen gegenübergestellt werden. Dieser Prozess ist iterativ und sollte mit starkem Fokus auf die Suche nach Lösungen für die Anforderungen der Kunden geschehen.

Das Resultat ist ein Entwurf des Pflichtenheftes, in dem aufgelistet ist, wie die ausgewählten Kundenanforderungen aus dem Lastenheft erfüllt werden. In der Realität kommt es häufig vor, dass eine Lösung mehrere Anforderungen befriedigt. Über die Anknüpfung der technischen Spezifikationen an die Baumstruktur der Anforderungen werden die Mess- und Testbarkeit sichergestellt. Software kann heute relativ unkompliziert die Beziehungen der Anforderungen untereinander und zu den Lösungsansätzen (technischen Spezifikationen) abbilden.

In der Praxis überlappen die Phasen „Sammlung, Dokumentation und Bewertung der Stakeholder-Anforderungen“ sowie „Definition der Systemspezifikationen“. Dadurch ist eine eindeutige Trennung nicht möglich. Um diesem Sachverhalt zu begegnen, werden technische Spezifikationen nur „reifen“, also abgestimmten und verabschiedeten Anforderungen gegenübergestellt. Dadurch kann die Verschwendung von „teuren“ Entwicklungsressourcen reduziert werden.

4. Nachverfolgbarkeit der Anforderungen und Änderungsmanagement

Mit der Verabschiedung des Lastenheftes werden die priorisierten Anforderungen, nach Genehmigung des Pflichtenheftes die technischen Spezifikationen „eingefroren“. Über ein Änderungsmanagement mit Genehmigungsprozessen können wichtige, sich ändernde Anforderungen und technische Spezifikationen angepasst werden. Auch diese Änderungen werden dokumentiert, sodass eine vollständige Rückverfolgbarkeit gewährleistet ist. Änderungsmanagement sorgt für Transparenz und Nachvollziehbarkeit von nachträglichen Entscheidungen zum Lasten- und Pflichtenheft.

Die erfolgreiche Implementierung eines Anforderungsmanagements klingt zunächst leicht. Doch sehen wir im Implementierungsprozess immer wieder die folgenden Herausforderungen:

  • Die Mehrarbeit am Anfang des Projektes durch die eindeutige Beschreibung der Anforderungen und eine saubere Dokumentation stoßen auf großen Widerstand. Selbst dann, wenn dadurch ab dem zweiten Drittel des Projektes nachweislich weniger Probleme und Störungen auftreten und Entwicklungszeit, Verschwendung oder Doppeltarbeit vermieden werden.
  • Der beliebte „Technologie-Push“ muss durch stärkere Argumente an den Projektverantwortlichen „verkauft“ werden. Nur wenn Kundenanforderungen bedient werden, sollte eine neue Technologie eingesetzt werden.
  • Welche Software ist geeignet ein effektives Anforderungsmanagement im Unternehmen zu etablieren?

Wir von CO-Improve haben für diese Herausforderungen verschiedene Lösungsansätze erfolgreich auf die individuellen Situationen unserer Kunden angepasst. Wenn Sie gerne mehr darüber wissen möchten, sprechen Sie uns einfach an!